Emanzipatorische Medienverwendung


Die dritte Abgabe zur VU Grundlagen der Kommunikations- und Medientheorie an der TU Wien. Die anderen finden sich hier.

Material:

R. Burkart: Kommunikationswissenschaft. Grundlagen und Problemfelder. Umrisse einer interdisziplinären Sozialwissenschaft, S. 516-520, Stuttgart 2002

Zusatztext zum Vertiefen und Nachlesen: B. Brecht: Radiotheorie. In: B. Brecht “Schriften zur Literatur und Kunst 1, 1920-1932”, S. 119-140, Frankfurt a. M. 1967

AUFGABE 3.1a

a) Was meint Brecht, dem Enzensberger in seiner Medientheorie folgt, mit der Aussage: „Der Rundfunk ist aus einem Distributionsapparat in einen Kommunikationsapparat zu verwandeln“?

Damit ist gemeint die Hörer*innen “sprechen zu machen”, sie “als Lieferant[*innen] zu organisieren”, daher statt sie als bloße Zuhörer*innen zu betrachten, sie zu Inhaltsproduzent*innen zu machen. Dadurch erwartet Brecht sich mehr relevante Inhalte (im Vergleich bezeichnet er die Radioverwendung/-sendungen seiner Zeit als inhalts- und folgenlos). Er sieht eine derartige Verwendung als “Kommunikationsapparat” als eine Möglichkeit eines gesellschaftlichen Diskurses, in dem über kommunale Politik diskutiert werden kann, Reichstagssitzungen ausgestrahlt werden oder über Produktnormen debattiert werden kann genauso wie über Brotpreise. An mehreren Stellen klagt er auch über nicht für's Radio geeignete Formate (e.g. ausgestrahlte Opern) der Radiobetreibenden und sieht die Verwendung als “Kommunikationsapparat” als Möglichkeit, das eher spezifisch fürs Radio Inhalte erstellt würden, wenn dieses eine offene Plattform wäre.

Enzensberger erwähnt dabei, dass technisch gesehen jeder Radioempfänger auch als Sender geeignet wäre. Ich nehme an, dass in diesem Fall die großen Radiostationen noch immer einen Bottle-neck darstellen würden, was entsprechenden Koordinationsaufwand bräuchte, der allerdings überwindbar ist, wenn der politische Wille dafür vorhanden wäre. Sowohl Enzensberger als auch Brecht gehen entsprechend davon aus, dass eine derartige Entwicklung beziehungsweise Umgestaltung des Radios bisher bewusst verhindert wurde durch die herrschenden Klassen.

AUFGABE 3.1b

b) Inwiefern hängt eine solche Veränderung der Massenmedien (Rundfunk, Fernsehen, …) mit einem emanzipatorischen Mediengebrauch eng zusammen?

Da auf diese Weise die Nutzer*innen durch ihre Beteiligung eher ihren Wünschen und Bedürfnissen Gehör machen können, beziehungsweise Inhalte auch eher in ihrem Interesse ausfallen. Dies würde einen emanzipatorischen Gesellschaftswandel bedeuten beziehungsweise nach sich ziehen.

AUFGABE 3.1c

c) Unter welchen Bedingungen ist ein Mediengebrauch emanzipatorisch und weshalb wird er so bezeichnet?

Wie bereits oben erwähnt, wäre es ein solcher, bei dem “Hörer*innen” selbst zu Inhaltsproduzent*innen würden, eine Stimme bekommen und sich dadurch ein gesellschaftlicher Wandel einstellt, bei sie eher ihre Wünsche und Bedürfnisse durchsetzen können.

Des Weiteren listet Enzensberger auch die folgende Gegenüberstellung von Merkmalen repressiven und emanzipatorischen Mediengebrauchs auf:

| repressiver Mediengebrauch | emanzipatorischer Mediengebrauch

—|:——————————————–|:——————————— 1 | zentral gesteuertes Programm | dezentralisiertes Programm
2 | ein Sender, viele Empfänger | jeder Empfänger ein potentieller Sender
3 | Immobilisierung isolierter Individuen | Mobilisierung der Massen
4 | Passive Konsumentenhaltung | Interaktion der Teilnehmer, Feedback
5 | Entpolitisierungsprozess | Politischer Lernprozess
6 | Produktion durch Spezialisten | Kollektive Produktion
7 | Kontrolle durch Eigentümer oder Bürokraten | Gesellschaftliche Kotnrolle durch Selbstorganisation

In 3.2a wird auf die eizelnen Merkmal-Dimensionen weiter eingegangen und diskutiert wo jeweils computerunterstützte Kommunikation einzuordnen ist.

AUFGABE 3.2a

Auf Seite 520 sind die Charakteristika eines repressiven und eines emanzipatorischen Mediengebrauchs (nach Enzensberger) aufgelistet: a) Welche dieser Charakteristika eines emanzipatorischen Mediengebrauchs treffen auf die computerunterstützte Kommunikation in den digitalen Medien zu (geben Sie Beispiele) und welche nicht (erläutern Sie dies bitte).

1) (De)zentrales Programm

“zentral gesteuertes Programm” vs “dezentralisiertes Programm”

Die Inhaltserzeugung im Internet ist per se stark dezentral. Solange Zugang zu einem Internet-fähigen und -verbundenem Endgerät und grundlegende technische Befähigung gegeben ist, kann jede Person relativ beliebige Inhalte online stellen. Einschränkungen dafür ergeben sich nur durch staatliche Zensur (e.g. die “Great Firewall of China”) und durch die Nutzungsbedingungen und Löschkriterien von Plattformanbietern.

Im Bezug auf letzteres: Grundsätzlich ist es zwar möglich einen eigenen Server ans Netz zu hängen und dadurch abgesehen von den Gebühren an den Internet Service Provider relativ unabhängig Inhalte zu veröffentlichen, allerdings ist dies üblicherweise mit Kosten und benötigten technischen Fähigkeiten verbunden, beziehungsweise ist auch die Integration mit anderen Diensten limitiert, weswegen die Mehrheit der Internetnutzer*innen diverse Plattformen verwendet (e.g. Facebook, Youtube, Flickr, Wordpress, etc), die es erlauben spezifische Arten von Inhalten zu veröffentlichen, übrlicherweise inklusive Übertragung der Nutzungsrechte und ohne der Möglichkeit der Mitnahme der eigenen Daten aus diesen “walled gardens” heraus.

Genauso wie ISPs haben diese Plattformbetreibende eine Rolle als “Gatekeeper” inne und können bewusst gewisse Inhalte unterdrücken (e.g. Kinderpornographie), die in ihren Nutzungsbestimmungen gelistet sind. Da die meisten dieser Plattformbetreiber US-amerikanische Firmen sind, sind auch die Kriterien stark von US-amerikanischen Wertevorstellungen geprägt. So wird etwa das Bild einer bekleideten Frau mit Regelblutung als “explicit content” gelöscht, während verhetzende Inhalte als “free speech” stehen bleiben.

Wobei nicht nur die Nutzungskonzentration auf Plattformen eine Einschränkung der Dezentralität darstellt. Zudem stellt sich auch das Problem des “gefunden Werdens” in den Massen an Inhalt im Internet. Suchmaschinen-betreiber nehmen eine ähnliche “Gatekeeper”-Rolle ein wie Plattformbetreiber. Neben Zensurkriterien stellt sich bei ihnen (wie auch bei Plattform-internen Such- und Recommendation-Algorithmen) die Frage des Algorithmic Bias. Auch wenn von den Betreibenden oft gerne der Mantel der “Algorithmischen Objektivität” geführt wird, so spiegeln ihre Resultate existierende Rassismen, Sexismen, etc wieder. So kritisiert etwa Safiya Noble1, dass feministische Magazine bei der Suche nach “women's magazines” nicht auf der ersten Resultatsseite landen, sondern diese von großen “Klatschblättern” gehalten wird, die sich die Reihung direkt (bei Google) oder indirekt (durch Betrieb von intensiv querverlinkten Seiten, umfangreichen Inhalt, etc) erkaufen können.

Aber selbst mit diesen Caveats bleibt zu sagen, dass das Internet deutlich dezentraler ist als die Massenkommunikationsmedien, die ihm vorhergegangen sind.

2) Ein vs Viele Sender

“ein Sender, viele Empfänger” vs “jeder Empfänger ein potentieller Sender”

Alle ans Internet angebundenen Geräte sind sowohl Sender als auch Empfänger, wie spätestens seit der “Web 2.0-Revolution” weithin bekannt ist.

Häufig ist eher das Problem, dass mehr gesendet wird als gewünscht, e.g. Tonaufnahmen von Siri, Google Now, Alexa, etc. Allgemein fehlt es an Bewusstsein, welche Daten preisgegeben werden und an Wissen und Kontrollmöglichkeiten um dies zu besser zu regulieren.

Auch hier ist zu Sagen, dass die obige Aussage nur mit Vorbehalt getroffen werden kann. Zwar ist es per se allen Möglich eigene Inhalte online zu stellen, allerdings um Inhalte von einer Qualität zu produzieren, die (Brisanz außen vor gelassen) von vielen Menschen gesehen werden benötigt es einiges an technischen- und Produktionsfertigkeit sowie finanziellen Möglichkeiten (e.g. im Vergleich Homevideo vs Hollywood-Produktion, oder Hobby-blogger vs Redaktionsteam einer renomierten Zeitung). Facebook hat unlängst veröffentlicht, dass es an neuem Inhalt auf ihrer Plattform mangelt, da ein Großteil der Posts lediglich Verlinkung von Inhalten außerhalb der Plattform sind.

Wie auch bei “1)” bleibt zu sagen, dass selbst unter diesen Nebenaspekten, das Internet deutlich partizipativer ist als vorhergehende Massenkommunikationsmedien.

3) (Im)mobilisierung

“Immobilisierung isolierter Individuen” vs “Mobilisierung der Massen”

Elektronische (Massen-)Kommunikation macht es so einfach, wie nie zuvor, Interessenvertretungen zu organisieren (e.g. häufig als Facebook-Gruppen, Online-Petitionen, etc). Oft wird auch die Rolle von Social Media / Online Medien in den Revolutionen des Arabischen Frühlings betont.

Eine allumfassende “Mobilisierung der Massen” ist hierzulande allerdings trotzdem ausgeblieben, was sich potentiell in einer Politikverdrossenheit verorten lässt. Allerdings lässt sich eine gewisse Polarisierung der Gesellschaft bemerken, die von der Funktionsweise der (in “1)” beschriebenen) Plattformen und Suchmaschinen verstärkt wird, deren Algorithmen zu den berüchtigten “Filterblasen” und “Echokammern” führen. So bekommen Nutzer*innen dieser Plattformen eher nur Inhalte zu Gesicht, die eine der ihren Meinung ähnliche vertreten, wodurch sie sich in dieser bestätigt fühlen, unabhängig davon was auch immer sie sein sollte – und leider oft auch unabhängig wie gegebenenfalls die “objektive Faktenlage” aussehen sollte (siehe die aktuellen Debatten zu “Fake News”). Vor allem rechtsextreme Parteien haben diese (und andere) Mechanismen verwendet, um in den letzten Jahren ihre Anhänger*innen zu mobilisieren.

4) Passiv vs Interaktiv

“Passive Konsumentenhaltung” vs “Interaktion der Teilnehmer, Feedback”

Es hat sich definitiv eine Kultur des Feedbacks im Internet entwickelt. So sind etwa Kommentarfunktionen weit verbreitet (selbst für eigentlich physische Dinge, e.g. via Yelp- und Amazon-Reviews), Response Videos auf Youtube sind eine übliche Praktik, genauso wie Ask Me Anythings auf Reddit mit Berühmtheiten.

Allerdings bleibt zu sagen, selbst wenn die Interaktions-Möglichkeiten drastisch zugenommen haben im Vergleich zur Vergangenheit, verwenden nicht alle Menschen diese und nicht alle (Online-)Plattformen laden Diskussion ein (wobei diese dann oft auf anderen stattfindet)

5) (Ent)politisierung

“Entpolitisierungsprozess” vs “Politischer Lernprozess”

Ich würde diese Merkmalsdimension interpretieren im Sinne der von Burkart erwähnten Auswirkung emanzipatorischen Mediengebrauchs, nämlich “unkritisches und reflexionsarmes Empfangen massenmedialer Inhalte würde durch aktives und kritisches Umgehen mit den Medien und deren Aussagen ersetzt.”

Im Bezug auf diese Aussage ist mein persönlicher Eindruck, dass selbst die erhöhte Kommunikation über Online-Medien nicht durchgehend beziehungsweise nicht zu erhöhtem kritischen Umgang mit Inhalten geführt hat. Vermutlich hängt diese Problematik mit der, der in “3)” erwähnten “Filterblasen” und “Echokammern” zusammen, in denen die Menge an mit der eigenen Meinung konfliktierenden Argumentationen, mit denen mensch in Kontakt kommt, durch technische und soziale Prozesse minimiert wird. Gepaart mit der oft fehlenden Zeit für tiefgreifende Recherche entsteht daraus dann auch das Problem der “Fake News”. Allerdings habe ich Hoffnung, dass durch die Benennung und Thematisierung dieser (meta-)kommunikativen Probleme sich die Lage in näherer oder fernerer Zukunft bessern könnte.

Zudem ist auch zu sagen, dass der meistgesehendste Teil der konsumierten Medien, nach wie vor von großen Medienproduzierenden kommt (e.g. Zeitungen, Fernsehnachrichten, Filmstudios, etc), die wenn auch oft online diskutiert, gefühlt auch oft unreflektiert hingenommen werden.

6) Produktion

“Produktion durch Spezialisten” vs “Kollektive Produktion”

Wie bereits in “1)” und “2)” bereits angerissen, ist es zwar für (fast) alle möglich Inhalte ins Internet zu stellen und online zu kommunizieren, aber aufgrund der Qualitätsansprüche bekommen Inhalte/Produktionen von großen, spezialisierten Organisationen tendenziell deutlich mehr Aufmerksamkeit. Allerdings ist die Eintrittschwelle definitiv niedriger ist als noch vor zwanzig Jahren. So hat beispielsweise der berühmte Youtube-Streamer “Imaqtpie” zur Zeit 1.2 Millionen Menschen, die seinem Channel subscribed haben und dadurch regelmäßig seine Videos sehen.

Tendenziell ist es auch leichter geworden wirklich “kollektive” Produktionen zu erstellen, da das Internet ein gutes Medium zur Kollaboration darstellt. Vor allem Remixes (e.g. bei Memes) sind weit verbreitet.

7) Kontrolle

“Kontrolle durch Eigentümer oder Bürokraten” vs “Gesellschaftliche Kontrolle durch Selbstorganisation”

Wie bereits oben erwähnt ist das Internet per se dezentral und entsprechend schwer bis gar nicht zu zensieren (e.g. kann die “Great Firewall of China” durch die Verwendung von VPNs/TOR umgangen werden). Allerdings, wie auch bereits erwähnt, konzentrieren sich die Inhalte auf einige, wenige große Plattformanbieter (e.g. Videos auf Youtube), die entsprechende Kontrollmöglichkeiten haben (siehe die Diskussion dazu in “1)")

AUFGABE 3.2b

b) Kann die computerunterstützte Kommunikation in den digitalen Medien demgemäß als emanzipatorischer Mediengebrauch bezeichnet werden oder nicht? Begründen Sie Ihre Aussage (Analyse).

Auch wenn nicht alle Merkmale emanzipatorischen Mediengebrauchs voll erfüllt ist, so ist die elektronische Massenkommunikation in Form des Internets doch so nahe wie kein anderes Massenmedium zuvor gekommen diese Merkmale zu erfüllen, so sie denn in ihrer Gänze erfüllbar sind (spezifisch im Bezug auf den politischen Lernprozess). Entsprechend würde ich sie im Zwischenraum zwischen diesen beiden Klassifizierungen sehen, allerdings deutlich näher am emanzipatorischen Mediengebrauch als am repressiven.


  1. Noble, Safiya. 2012. “Missed Connections: What Search Engines Say about Women. Bitch magazine , 12(4): 37­41. https://safiyaunoble.files.wordpress.com/2012/03/54_search_engines.pdf ↩︎